Immer größere Armut in Deutschland
Laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut hat die Armut in Deutschland deutlich zugenommen. Dies sei nicht nur für Betroffene, sondern für die Gesamtgesellschaft problematisch.
ba Frankfurt – Im vergangenen Jahrzehnt hat die Armut in Deutschland deutlich zugenommen, wie eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt. Dies sei eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die fortgesetzten sozialen Stresstests durch Corona-Pandemie, UkraineKrieg und Rekordinflation, heißt es in dem neuen Verteilungsbericht. Die Forscher regen daher fünf politische Maßnahmen an – denn das Problem betreffe die gesamte Gesellschaft. Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem Einkommensmedian sei schon vor Beginn der Coronakrise um ein Drittel gegenüber dem Jahr 2010 gewachsen. Und auch die Ungleichheit der Einkommen insgesamt habe 2019 einen Höchststand erreicht.
Zwischen 2010 und 2019 ist die Armutsquote der Studie zufolge um 17,5 % gestiegen – die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 % des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, schoss gar um gut 40 % in die Höhe. Deutlich größer wurde auch die Armutslücke, also der Betrag, der einem durchschnittlichen armen Haushalt fehlt, um rechnerisch über die Armutsgrenze von 60 % zu kommen. Im Jahr 2010 betrug der Rückstand 2 968 Euro und sank bis 2013 leicht, um dann sehr schnell auf 3 912 Euro im letzten Vor-Coronajahr 2019 anzuwachsen. „Hier zeigt sich, dass die armen Haushalte von diesem Aufschwung nicht profitieren konnten, sondern den Anschluss daran verlieren“, schreiben die Studienautorinnen Dorothee Spannagel und Aline Zuco.
Die Folgen der Armut waren für die Betroffenen schon vor den rasanten Energiepreissteigerungen spürbar: Gut 14 % der Menschen unter der Armutsgrenze konnten es sich nicht leisten, neue Kleidung zu kaufen. Immerhin 5 % fehlten die Mittel, um ihre Wohnung angemessen zu heizen. Weitere messbare Folgen gebe es mit Blick auf die Lebenszufriedenheit und die Qualität der Gesundheit. Bildung und Qualifikationen seien ebenso niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt, wie das Vertrauen in staatliche Institutionen.
„Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, mahnte WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. So würden lediglich 68 % der Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten, die Demokratie für die beste Staatsform halten. Und nur 59 % würden die Demokratie als funktionierend beschreiben. Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut sei daher nicht nur nötig, um den Betroffenen zu helfen, „sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten“. Das gelte umso mehr, da in Zeiten von hoher Inflation sozialer Abstieg auch Menschen drohe, „die sich während des vergangenen Jahrzehnts darum wenig Sorgen machen mussten“.
Fünf Gegenmaßnahmen
Das WSI schlägt daher fünf Maßnahmen vor, um Armut nachhaltig zu bekämpfen. So solle die Tarifbindung gestärkt und der Niedriglohnsektor rückgebaut werden, um Geringverdienern höhere Löhne zu bescheren. Zudem müsse die Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau erhöht werden. Auch gelte es, sozialen Wohnraum zu fördern und ein gut durchdachtes Quartiersmanagement zu betreiben. Die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört ebenso zum Forderungskatalog wie auch die Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Qualifizierung.